Eine Wirbelsäule ist noch lange kein Rückgrat


Eine Wirbelsäule ist noch lange kein Rückgrat

Eine Wirbelsäule ist noch lange kein Rückgrat

Barbara Tewes

Mein Berufswunsch stand seit frühester Jugend fest - felsenfest, und nicht einmal schwankte oder wechselte ich. Mit den ersten gut benoteten Aufsätzen in der Polytechnischen Oberschule entwickelte ich meine Freude am Schreiben, und so lag es auf der Hand, dass ich auch sehr schnell ein sogenannter "Volkskorrespondent" wurde.

Als ich, damals 14-jährig, in der Schulklasse von der Lehrerin nach meinen beruflichen Vorstellungen gefragt wurde, posaunte ich es ohne eine Sekunde der überlegung hinaus: "Ich werde Journalistin, aber nicht in der DDR"! Im Jahr 1965 war dies ein unverzeihlicher Affront. Meine Mutter wurde am nächsten Tag zum Direktor der Schule bestellt. Natürlich war eine derartige Äußerung nur auf das im Elternhaus fehlende sozialistische Bewusstsein zurückzuführen, quasi eine Folge meiner unzulänglichen Erziehung, vor allem hinsichtlich der erzwungenen politischen Grundhaltung. Die genannte avisierte berufliche Richtung verfolgte ich in aller Konsequenz. Dies bedeutete zuerst das Abitur, anschließend ein Volontariat mit dem sich anschließenden Studium am "Roten Kloster" in Leipzig.

Aufgrund sich wiederholender unpassender Äußerungen meinerseits war es eine logische Konsequenz, dass mir die Erweiterte Oberschule versagt blieb und ich nur die Möglichkeit hatte, das Abitur mit berufsbegleitender Ausbildung hinter mich zu bringen. So war es tatsächlich, denn ich wurde "Spinner mit Abitur", wie es in meinen Zeugnissen heißt. Mit größtem Widerwillen erlernte ich den Beruf einer Baumwollspinnerin, obwohl ich vorher an allen entscheidenden Stellen auf meinen Berufswunsch – eine Pressetätigkeit – hingewiesen hatte. Auch mein Vorschlag, eine Ausbildung zur Fotografin mit dem Abitur zu verbinden, wurde überhört. Verständlich, denn die DDR-Produktion brauchte billige Arbeitskräfte, die sie auf diese Weise erhielt.

Als ich die verhassten Fabrikhallen endlich hinter mir gelassen hatte, startete ich mit ungebremstem Elan und immenser Vorfreude mit meinem Volontariat bei der "FREIEN PRESSE" im damaligen Karl-Marx-Stadt. Mir zur Seite stand ein Mentor, der mir die Unterschiede zwischen Reportage, Feuilleton, Nachricht et cetera detailliert erklärte. Diesbezüglich muss ich auch heute noch uneingeschränkt diese tägliche Betreuung und Anleitung, ungeachtet jeglicher politischen Indoktrination, anerkennen. Wir lernten wirklich von der Pike auf, wie eine Zeitung entsteht, welche Sprache für welche Texte zu verwenden ist, welche Fehler vermeidbar sind beziehungsweise worauf es tatsächlich bei einer Berichterstattung ankommt. Diese Gründlichkeit habe ich bei bundesdeutschen Medien in meiner späteren Ausbildung oft vermisst.
Neben diesen rein "technischen Fragen" lernte ich sehr schnell noch einen viel wesentlicheren Aspekt kennen, den ich allerdings viel zu häufig missachtete: Ich wurde permanent und pausenlos auf eine konkrete Maxime gestoßen. Ich sollte nur über die Dinge berichten, über die man schreiben durfte. Das jedoch widersprach mir zutiefst – ich wollte aufgreifen, was ich entdeckt hatte, Mängel aufzeigen, aber auch über positive Ereignisse berichten. Kurzum: Ich wollte kritischen Journalismus betreiben und ausleben. Selbst die mir damals wohlgesonnenen Kollegen verzweifelten regelrecht an meiner starren Haltung. Ständig und mehrfach erinnerten sie mich daran, meinen Studienplatz nicht zu gefährden, "vorsichtig" zu sein, den Mund in kritischen Situationen zu halten, eben "mitzuschwimmen" - wie sie dies auch taten. Angeblich, so ihre Äußerung, gewöhnt man sich daran - sie wohl, ich jedoch nicht und nie, zu keiner Zeit! Dem Mitschwimmen widersetzte ich mich permanent, denn unter journalistischer Tätigkeit verstand ich sehr viel mehr als nur die geforderte Schönfärberei, der sich meine Kollegen problemlos untergeordnet hatten. Regelmäßige parteiliche Veranstaltungen und Weiterbildungen innerhalb des Hauses dienten dazu, diese angestrebte "sozialistische Persönlichkeit" zu schaffen.
Monate gingen ins Land. Ich blieb beharrlich bei meiner Einstellung und sorgte dafür, dass ich mit Eifer und Zuverlässigkeit keine zusätzliche Angriffsfläche bot. Ich übernahm Wochenend- und Feiertagsdienste, war in Krankheitsfällen zur Stelle und half, wenn die übliche Hektik ausbrach und innerhalb kurzer Zeit noch Seiten zu füllen waren. Dieser mittlerweile eingefahrene und sich wiederholende Gleichlauf hatte eines Tages ein jähes Ende und veränderte meinen Lebensentwurf entscheidend.

Anfang 1972 wurden innerhalb einer Verstaatlichungsaktion im Laufe kürzester Zeit alle bis dahin noch existenten halbstaatlichen Betriebe in der DDR enteignet, soll heißen "in die Hände des Volkes übergeben". Dazu gehörte auch die Stuhlfabrik meiner Eltern beziehungsweise Großeltern im Erzgebirge. Diese Firma war über Jahrzehnte das Lebenswerk meines Großvaters. Ein Schock nicht nur für meine Familie, sondern für alle Betroffenen. Mein Vater wurde als Geschäftsführer sofort entlassen, meine Mutter in einer untergeordneten Position als frühere Erbin des Firmengründers weiter geduldet.
Einige Zeit später wurde ich in das Büro des Chefredakteurs Dietmar Griesheimer gerufen. Lächelnd und mit feistem Gesichtsausdruck forderte er mich auf, eine Reportage über diesen neuen Zustand zu schreiben, über die neuen Verhältnisse zu berichten und die Freude der neuen Besitzer kundzutun. Dass wir, meine Familie, alles verloren hatten, interessierte dabei nicht. Es ist für einen neutralen Beobachter vielleicht schlecht oder auch nicht nachvollziehbar, aber mein weitsichtiger Vater hatte dies vorausgesehen und mich gewarnt. Das heißt, ich nahm diesen perfiden Auftrag – zumindest äußerlich – gelassen auf. So bat ich Griesheimer, mir drei Monate dafür Zeit zu geben, um die Veränderungen zu beobachten und anschließend in meinem Bericht festzuhalten. Und so geschah es auch.
Exakt drei Monate später reichte ich diese "Sammlung" im Büro des Chefredakteurs ein. Akribisch hatte ich den zunehmend vernachlässigten und sichtbar schlechten Zustand des neuen Volkseigenen Betrieb zu Papier gebracht, auf viele früher undenkbare Unzulänglichkeiten hingewiesen, wie auch die plötzliche Gleichgültigkeit der dort Beschäftigten angesprochen. Der Unterschied war eklatant und selbst für Laien unübersehbar. Deshalb war mein Papier auch mehr ein Protokoll, wenige eine Geschichte im üblichen Sinne.
Etwa anderthalb Stunden später wurde ich erneut zu Griesheimer gerufen, der mir erklärte, ich sei mit sofortiger Wirkung entlassen! Auch meine inzwischen vorliegende Studienzusage wurde in diesen Minuten hinfällig. Der Grund dafür lag auf der Hand. Ich hatte an meinem kapitalistischen Gedankengut festgehalten, die erfolgreichen sozialistischen Errungenschaften negiert und meine Unfähigkeit, jemals ein guter Journalist zu werden, bewiesen. Damit änderte sich mein Leben innerhalb eines Vormittags. Stattdessen wurde ich zwecks "Bewusstseinsänderung" für Wochen auf eine Baustelle verbannt, wo ich beim Klärgrubenbau mithelfen musste.
Schwere körperliche Arbeit sollte meine parteifeindlichen Gedanken und Ambitionen abtöten und mich der Basis der Arbeiter- und Bauern-Klasse näherbringen. Intellektuelle Ansätze waren dem System ein Dorn im Auge, noch dazu, wenn sie nicht mit der vorgegebenen Richtung übereinstimmten. Nur am Rande sei erwähnt, dass just dieser Chefredakteur 1989 wegen Amtsmissbrauchs und Korruption aus der SED ausgeschlossen wurde und verständlicherweise auch seinen Posten verlor.
Dass aufgrund dieses Rausschmisses die Stasi für die nächsten Jahre zu meinem Dauerbegleiter wurde, muss nicht näher ausgeführt werden. Dank guter Beziehungen gelang es mir wenige Monate später - im Herbst 1972 - bei der Bezirkszeitung der CDU "UNION" in Dresden unterzuschlüpfen, um meine unfreiwillig abgebrochene journalistische Laufbahn fortzusetzen beziehungsweise "über Hintertürchen" wieder zum Laufen zu bringen – auf welche Weise auch immer. Noch heute schmunzle ich über meine Naivität. Glaubte ich doch allen Ernstes, mich bei den CDU-Kollegen auf sicherem Terrain zu befinden und wie gewohnt meine oft ungefilterten Bemerkungen loszuwerden. Mittlerweile hatte ich die Anfangshürden übersprungen, wurde zu vielen interessanten Terminen geschickt, fügte mich problemlos ins Redaktionsleben ein und sah einem verspäteten Studium zuversichtlich entgegen.
Nach etwa einem Jahr wurde ich in die Bildungsstätte der DDR-CDU - ins Schloss Burgscheidungen - beordert, um dort an einem dreimonatigen politischen Lehrgang teilzunehmen. Wir verstanden uns alle prächtig, denn Einigkeit unter den Teilnehmern bestand darin, die DDR doch weitgehend reformieren zu müssen. Gern erinnere ich mich an diese herrlich unbeschwerte Zeit in diesem traumhaften Gemäuer mit seinem wunderschönen Barockpark. Mein Zeugnis fiel einigermaßen gut aus, und ein einziger kritischer Satz störte mich keineswegs. So hieß es, "in bekenntnisfordernden Situationen hätte sie zuweilen aktiver auftreten können". Genau das lehnte ich aber ab!
Frohen Mutes kehrte ich in die Dresdner Redaktion zurück - hoffend, nun bald die Erlaubnis zum Studium zu erhalten. Dass ich mich zwischendurch und das oft "zwecks Klärung eines Sachverhaltes" bei der Polizei mit anschließenden Verhören zu melden hatte, verunsicherte mich nicht. Daran hatte ich mich inzwischen als einst kapitalistisches Geschöpf und als, so wörtlich, "Parasit der Gesellschaft" gewöhnt.
Mit Ablauf dieses zweiten Jahres - inzwischen durfte ich mich als redaktionelle Mitarbeiterin bezeichnen - bereitete ich mich ahnungslos und in gutem Glauben auf meine Leipziger Studienjahre vor. Ich hatte nicht den geringsten Zweifel an einer letztlich doch guten, wenn auch verspäteten Lösung meiner beruflichen Ambitionen, denn Gegenwind und Abwehr spürte ich unter meinen Dresdner Kollegen nie. Dass Irren menschlich ist, sollte sich später noch zeigen.
Kurz vor dem offiziellen Ende dieser zwei für mich positiv verlaufenden Jahre mit durchweg schönen Erinnerungen, erhielt ich die hier separat vorliegende Beurteilung des damaligen Chefredakteurs Karl-Friedrich. Zugegeben, ich war geschockt und entsetzt - und stürzte ins Bodenlose. Diese erneute Abfuhr hatte ich nicht im Geringsten erwartet. Und wieder war ich arbeitslos. Arbeitslosigkeit war in der DDR ein völlig unbekannter Begriff. Beim nächsten, kurz darauf folgenden Stasiverhör, wurde ich gezwungen, mir eine Arbeit zu suchen. Das wiederum war jedoch kaum möglich, da in meiner Kaderakte darauf hingewiesen wurde, mich aufgrund meiner staatsfeindlichen Grundeinstellung nicht zu übernehmen. Dies erfuhr ich mehrfach innerhalb "unter der Hand" vermittelter Vorstellungsgespräche ("ich würde sie gerne einstellen, darf aber nicht..."). Damit war das Maß für mich voll.
Ab diesem Moment stand unweigerlich mein Entschluss fest, in die Bundesrepublik auszureisen. Keiner, auch nicht die hartnäckigen Stasi-Leute, konnten mich während stundenlanger Verhöre davon abbringen. Natürlich hatte ich Angst, in Hoheneck zu landen. Aber heute erfüllt es mich mit immenser Freude, in meiner Stasiakte zu lesen, dass eine genehmigte übersiedlung einem Zuchthausaufenthalt vorgezogen werde, da ich als gefährlich und staatsfeindlich gelte und möglicherweise andere Häftlinge mit meinen feindlichen Ideen infiltrieren und das Zuchthaus aufmischen würde. Welches Glück! Am 24. Oktober 1975 musste (!) ich innerhalb eines Tages die DDR verlassen. Ein Tag, den ich noch heute als zweiten Geburtstag feiere. DDR adé.
Eine unbeschreibliche Freude und ein unendliches Maß an Genugtuung erfüllten mich, als ich genau zwanzig Jahre später – im Sommer 1991 – als neue Pressesprecherin des sächsischen Innenministers nach Dresden zurückkehrte. Nie vergessen werde ich die hilflosen und verunsicherten Gesichter einiger meiner alten Kollegen. Zu ihrem Leidwesen waren diese noch im berufsfähigen Alter. Plötzlich bettelte man um Interviews und allesamt - ohne Ausnahme - waren bereit, für den über Jahrzehnte verurteilten Klassenfeind zu arbeiten. Meine häufig gestellte und zweifellos sarkastische Frage, warum sie ihr noch unterentwickeltes kapitalistisches Bewusstsein nicht ebenso wie ich als Friedhofsgärtner, auf Baustellen oder als sonstige Hilfsarbeiter auffrischen, um sich den neuen gesellschaftlichen Verhältnissen anzupassen, wurde geflissentlich mit einem Schweigen quittiert.
Nicht umsonst erwähnte ich oft genug den Unterschied zwischen einem Rückgrat und einer Wirbelsäule. Sehr erstaunlich finde ich, dass einige meiner früheren "dunkelroten" Kollegen aus der Chemnitzer Redaktion "FREIE PRESSE" oder der Dresdner "UNION" ganz plötzlich und selbstverständlich begeisterte Reiseberichte über Paris oder andere früher totgeschwiegene Sehenswürdigkeiten veröffentlichten, inzwischen ihren früheren geliebten Trabant gegen ein Produkt aus kapitalistischer Ausbeutung vertauscht hatten. Die neuen westlichen Verhältnisse wurden sichtbar genossen.
In dieser Zeit besorgte ich mir auch meine 400-seitige Stasiakte, der ich mehr als erstaunt entnahm, dass sich unter meinen früheren "UNION"-Kollegen sieben IM befanden, die meine Äußerungen brühwarm an die Stasi weitergereicht hatten. Dass ich sie alle zur Rede stellte, muss nicht weiter ausgeführt werden.
Heute blicke ich mit Freude und Dankbarkeit auf eine 43-jährige Berufstätigkeit als Journalistin zurück, erinnere mich begeistert an meine Zeiten beim "westdeutschen" Fernsehen, an viele Jahre beim Rundfunk, an Jahrzehnte bei unterschiedlichen Tageszeitungen wie auch an drei aufregende Jahre im Ausland. Interessante und nicht immer ungefährliche Reportagen führten mich während meiner dreijährigen "Welteinsätze" nach Japan oder Südamerika, ließen mich am iranisch-irakischen Krieg in Ostanatolien teilhaben, mit dem Jeep die Wüsten von Algerien bis nach Lybien durchqueren, im Einbaum neben Krokodilen bis nach Nicaragua "schwimmen" oder auch mit strengster spanischer Etikette für das belgische Königshaus tätig werden. Unglaublich aber wahr. Und da obwohl ich doch laut DDR-Obrigkeit so denkbar ungeeignet für eine journalistische Tätigkeit war.

Ein Schmunzeln sei mir erlaubt.