Wie verlogen waren die Medien in der DDR?


Wie verlogen waren die Medien in der DDR?

Wie verlogen waren die Medien in der DDR?

Lutz Rathenow

Lügenpresse? Nein, das hätten meine Eltern oder ich zur DDR-Presse kaum gesagt. Es war zu selbstverständlich, dass die Presse vor 1945 (sagte meine Mutter) und die nach 45 auf andere Weise uns nicht die Wahrheit sagte. Lüge wäre ein zu kurzsichtiges, ja falsches Wort für die Abwesenheit vieler Fakten gewesen. Und der Wetterbericht und manche Details - zum Beispiel auf der Wissenschaftsseite im „Neuen Deutschland“ (ND) - stimmten ja schon. Die Lüge setzt voraus, dass einer die Wahrheit weiß und sie den anderen bewusst vorenthält. Das kam natürlich immer wieder vor, das über gehörte Fakten aus dem Westfernsehen - zum Beispiel zum Atomkraftwerksunglück in Tschernobyl - der Journalist in der DDR nichts berichten durfte.
Aber wie wahr diese DDR-verschwiegenen Fakten wirklich waren, konnte er auch nicht wissen. Er sollte es nicht wissen: es war ihm untersagt nachzufragen. Er hätte sich auch privat nicht informieren dürfen. Weder bei der Redaktion einer Westzeitung, da hätte wegen ungesetzlicher Verbindungsaufnahme Verhaftung gedroht, noch bei der russischen Seite im beschriebenen Fall. Ich nehme an, eine förmliche Anfrage bei der Botschaft der Sowjetunion hätte zu einer förmlichen Antwort von dort und zur Entlassung aus der Redaktion oder zur Anwerbung durch das MfS geführt: „Wir suchen ja neugierige Leute. Mit uns an der Seite dürfen sie viele Fragen stellen, wenn auch nicht an unsere sowjetischen Genossen.
Aber wie wäre es mit einem perspektivischen Einsatz im Westen? Zuerst wollen wir aber etwas über Mitarbeiter in Ihrer Redaktion wissen, wir müssen Sie ja einmal testen!“. Wer journalismus-ähnlich arbeiten wollte in der DDR, hielt sich an den Rändern der Auf- merksamkeit auf, an denen Journalismus und Kultur sich berührten, in jenen Bereichen, die keine Schwerpunkte der politischen Haltungsvermittlung waren. Zum Beispiel bei Materialrecherchen im Rundfunk oder beim Dokumentarfilm der DEFA, der interessante Wirklichkeitsfetzen einsammelte, die nicht alle zu Filmen verknüpft werden durften. Oder die zu Ende gedrehten: sie wurden nicht oder nur geschnitten aufgeführt.
Jedes Medium in der DDR hatte eine etwas andere Art kontrolliert und reglementiert zu werden. Ich habe einige Jahrgänge einer Pilzfachzeitschrift durchgeblättert. In dieser konnte ich faktisch keine Spuren politischer Beeinflussung finden. Zensur setzt voraus, dass es etwas zu zensieren gibt. Die Tagespresse in der DDR brauchte ein schnell arbeitendes Regelwerk von Wirklichkeitsausblendungen und -Verformungen, das sofort funktionieren musste. Bei Büchern oder Filmen konnten staatliche Entscheidungen Monate, ja Jahre geschoben werden – eine Tageszeitung erschien auch in der DDR am jeweiligen Tag. Es ging also nicht nur um die Kontrolle der Fakten in der veröffentlichten Meinung, es ging auch um die permanente Kontrolle der schreibenden öffentlichkeitsarbeiter, jener im Rundfunk sprechenden und vor allem der über die beiden Fernsehsender die öffentlichkeit erreichenden.
Für das Fernsehen gab es wöchentliche Sprachregelungen, wenn es etwa Versorgungsprobleme bei Bockwürsten gab, durften keine im Berliner SEZ (ein Sport- und Freizeitzentrum) ins Bild kommen, um in der Provinz die Wut auf die besser versorgte Hauptstadt zu zügeln. Die Zensur selbst war schon die Panne, wenn ein Artikel aus einer Kirchenzeitung aus dem Verkehr gezogen werden musste oder gleich die ganze Zeitung. Das gehörte zu Vorfällen, die die Partei-Anweiser unbedingt vermeiden wollten. Da die Presse große Teile der Wirklichkeit versteckte, wirkte sie gesellschaftsfeindlich. Man las die Zeitungen von hinten nach vorn – auf der Titelseite war nichts zu erwarten.
Unvergessen der Mähdrescher auf dieser Titelseite am Beginn der jährlichen Ernte - wurde wirklich noch das Nazi-geprägte Wort „Ernteschlacht“ verwendet? Die Zeitungen sollten beruhigen, Vertrauen in die Richtigkeit der Politik beweisen. Und so eine Botschaft an die Leser aussenden: Ihr müsst Euch nicht um das Land kümmern, das tun die Partei und ihre vielen Helfer schon aufopferungsvoll. Im politischen Bereich waren die Blätter im Grunde Placebo-Zeitungen. Während heute Tageszeitungen um die Gunst der Leser wetteifern, Aufmerksamkeit um jeden Preis erheischen wollen, leisteten die DDR-Aufmacher Beachtliches beim Versuch, den Leser einzuschläfern.
Das war etwas anders auf den Kulturseiten, dort – und fast nur dort – gab es mitunter Differenzen zwischen dem Zentralorgan der Partei „Neues Deutschland", der Zeitung des Jugendverbandes "Junge Welt" und den Tageszeitungen der Blockparteien. Letztere genau zu untersuchen wäre spannend. Es gab übergroße Vorsicht bei den geforderten Beschönigungsübungen, aber auch sanfte Verweigerungen der vollen Manipulierungsintensität. Oder ein Theaterstück wurde gelobt, was im ND nicht gelobt worden war. Andere, dieser am Rande existierenden Blätter zeigten ein übermaß an Realitätsverblödung, wie die Monatszeitschrift der Gewerkschaft FDGB „Kulturelles Leben“. Manche ließen in Texten Eigensinn und Distanz aufblitzen, wie in der Wochenzeitung „Sonntag“.
über die Zeitungen der Evangelischen Kirchen und der Katholischen Kirche müsste wieder extra geredet werden. In diesem Buch kommen in den Beiträgen viele Aspekte der Zensur und der Gegenwehr zur Sprache. Maria Nooke schildert anhand eines Beispiels wie unabhängige bis oppositionelle Wirklichkeitsrecherchen zu Ansätzen einer unabhängigen Presse führten.
Mindestens genauso wichtig waren die Kontakte zu Westjournalisten, von denen knapp zwanzig in der DDR akkreditiert waren und über das der temporär Einreisenden: Peter Wensierski schildert seine Erfahrungen. Die DDR wollte nie besonders dramatisch sein, und wo ihr das nicht gelang und sie doch jemand verhaften zu müssen glaubte, sollte es wenigstens vor der öffentlichkeit vertuscht werden - Eine echte Verhinderungsdiktatur. Die DDR-Führung musste letztlich damit leben, dass ein Teil unterdrückter Informationen doch in die Westmedien gelangte, von denen die DDR-Bevölkerung einige sehen oder hören, allerdings nur selten lesen, konnte. Bis auf die westfernsehfreie Zone – die Wortschöpfung vom „Tal der Ahnungslosen“ ist im Grunde falsch. Da, wo man sich kein eigenes West- Medienbild machen konnte, multiplizieren sich Ahnungen zu Mutmaßungsgewissheiten schneller.
Aber das galt für die ganze DDR: Wo die Zeitungen einen nachrichtenarm angähnten, im Fernsehen die heile nette Welt der Zufriedenheitsdiktatur zelebriert worden war, mussten Gerüchte die Wahrnehmungslücken der nicht gesehen Realität stopfen. Die demagogische politische Kunst einer Diktatur besteht darin, den Beherrschten wesentliche Informationen vorzuenthalten und bei ihnen gleichzeitig durch nicht öffentliche Zusatzinfos, zum Beispiel vertraulich auf Parteiversammlungen, gestreut den Eindruck zu erwecken, sie würden alles Wesentliche erfahren. Das Gerücht ist immer ein Versuch sich eine ungekannte Realität überschaubar, erklärbar zu machen.
Meine ganz persönlichen unterschiedlichen Berührungen mit der Presse in der DDR ergäben kontrastreiche Ansatzpunkte für eine eigene Biografie: die wichtigtuerisch lächerlichen oder trickreich halbfrechen Leserbriefe schon als minderjähriger Schüler, von denen einige wirklich gedruckt oder zumindest erwähnt worden sind. Und um bei der -eigentlich verhassten - Armee Sonderurlaub zu einem Poetenseminar in Gera zu bekommen, und um der Ausbildung zwei Tage zu entkommen, schrieb ich drei Armeegedichte, die auch gedruckt wurden. Der Urlaub klappte, ich fuhr nicht zum Seminar, nur nach Hause. Das interessierte die Armee nicht. Sie hatte ihre ungeliebte Pflicht erfüllt, Kultur zu fördern.
Meine Veröffentlichungen eines Gedichtes in der „Armeerundschau“, eines in der „Volkswacht“, und alle drei in einer Zeitschrift des Bezirkskabinetts für Kulturarbeit, bedeutete ein klitzekleinwenig Einfluss auf die Offiziere. Immerhin hatte ich fast ein halbes Jahr Ausgangssperre wegen Disziplinvergehen, immerhin wurde schon die (Straf)Versetzung ins Wachregiment angedroht. Das trauten sie sich nicht mehr. Und mir zeigte dieser Verblödungstiefpunkt in meinen Texten wie sich Anpassung auch aus Ekel speisen kann. Vielleicht fühlte sich so bisweilen manch Journalist, wenn er gegen seine überzeugung anschrieb. Ein paar Jahre später ließ ich die bei der Armee gespürte Aggressivität direkt in einen Text einfließen, der 1980 im ersten Westbuch erschien.
Es ging um einen namentlich kaum verfremdet geschilderten Pädagogen der Jenaer Universität: „ Und ich ging hin und erschlug Prof. Dr. Dr. h. c. päd. Mitzeleim lustlos. Er fragte: Haben sie Befehl Weisung Parteiauftrag. Ich nickte und er nickte und ich würgte stach erschoss ihn. Und ich ging auf meinen Platz zurück, bestellte einen Kaffee, zog die Notbremse, verhaftete den Zug. Stellte einen nach dem anderen an die Wand, erschoss jeden einzeln, irgendwann mich.“ Starker Tobak, der im Wesentlichen von Zitaten aus der sozialistischen Ideologie lebte. Und von einem O-Ton aus einer DDR-Zeitschrift zur Zivilverteidigung. Erst dieses Zitat aus der DDR-Presse beglaubigte meinen ziemlich wutbürgerhaft dahingemotzten Text – so etwas stand in einer Zeitschrift in der DDR: „Dabei achtete ich vor allem auf einen bequemen Anschlag. Es dürfen keine Spannungen in der Brust- bzw. Rückenmuskulatur auftreten. Die Füße sollten schulterbreit auseinandergestellt sein. Erfahrungen zeigen, dass der günstigste Winkel des linken Fußes bei achtzig bis neunzig Grad zur Schussrichtung liegt. Der rechte Fuß wird außerdem eine halbe Fußlänge zurückgesetzt. Das entspricht einem Winkel von zehn bis zwanzig Grad zur Schussrichtung. Schulter- und Fersenlinie bilden annähernd eine Ebene. Der Kopf steht frontal zur Scheibe und wird weder nach vorn noch nach hinten geneigt. Man erhält so einen bequemen Anschlag, der einem erlaubt, ohne Anspannung längere Zeit ruhig stehend zu schießen.“ Manchmal musste man die Presse nur im O-Ton auf sich und andere wirken lassen, um sich gegen ihre Wirkungen zu immunisieren. Oder wie war das mit der offiziellen Losung „Arbeite mit, Plane mit, Regiere mit!“ Wenn jemand begann in politischen Bereichen mitzuplanen, geriet er rasch in Kollision zu den Planvorgaben und damit in Opposition. Die Aufforderung „Regiere mit!“ hätte dann als Aufforderung zur Ablösung der unfähigen Regierung verstanden werden können.