Peter Wensierski


Schreiben, was ist. Der Reisekorrespondent Peter Wensierski

Schreiben, was ist. Der Reisekorrespondent Peter Wensierski

Der Journalist Peter Wensierski berichtet von 1975 bis 1985 als Reisekorrespondent für den Evangelischen Pressedienst aus der DDR. Ab 1985 wird er mit einem Arbeits- und Einreiseverbot belegt. Auch danach bleibt er dem Thema DDR treu.

Er arbeitet seit 1986 als Redakteur des Polit-Magazins „Kontraste“. Dieses richtet sein Profil ab Mitte der 1980er-Jahre auf deutsch-deutsche Beziehungen aus und sendet über Tabuthemen wie etwa Umwelt, Wohnungsverfall, Jugendliche, Wahlen oder Ausreise. Zudem veröffentlicht er in der Bundesrepublik Anfang der 1980er-Jahre Bücher über Jugendliche und die Friedens- und Umweltgruppen. Die westdeutschen Verlage interessieren sich jedoch kaum dafür. Das Buch „VEB-Nachwuchs“ wird sogar vom Gesamtdeutschen Institut als unbrauchbar eingestuft. Im Jahr 1985 entsteht der Spielfilm „Transitträume“.

Schreiben, was ist

Peter Wensierski

Jeden Morgen lagen sie schon auf meinem Schreibtisch in der West-Berliner Bachstraße. Ein kleiner Stapel mit dünnen Blättchen, jede Ausgabe hatte nur ein paar Seiten, aber es waren die wichtigsten Zeitungen der DDR: vom Neuen Deutschland über die Junge Welt, der Morgen, die Neue Zeit, die Berliner Zeitung bis hin zu den wöchentlich oder gar monatlich erscheinenden Publikationen wie der Sonntag, die Neue Berliner Illustrierte oder das Magazin.
Meist war die Durchsicht der Blätter schnell erledigt. Denn hatte man eine gelesen, kannte man alle anderen. Die staatliche Nachrichtenagentur ADN gab die Themen bis in die Formulierungen vor.
Als junger Journalist, der unmittelbar nach seinem Studienabschluss 1979 begann, über das Leben in der DDR zu berichten, konnte ich selten etwas Überraschendes, etwas wirklich Interessantes in den Blättern des SED-Staates entdecken. Zahlen über Zahlen zur Planerfüllung, Leute mit endlos langen Titeln trafen andere Leute mit ebenso langen Titeln.
Die morgendliche Lektüre war nicht nur langweilig, sie war eine Zumutung für jeden erwachsenen Menschen – weniger für mich, als für Millionen von DDR-Bürgern, die in der Regel morgens keine anderen Zeitungen zu Gesicht bekamen.
Wenn ich dann – meist im Laufe des Vormittags – über die Grenze an der Invalidenstraße nach Ost- Berlin fuhr, erlebte ich eine Welt, die nichts mit der Darstellung in diesen Zeitungen zu tun hatte. Genauso wenig wie mit den Parolen auf den allgegenwärtigen Schildern in den Straßen. Verpackung und Inhalt stimmten in der DDR nicht überein.
Ich wollte über das berichten, was ist ­– nicht über das, was vorgeblich sein sollte. Der Unterschied zur Realität, die ich vorfand und der Scheinwelt der Zeitungen war gewaltig. Allerdings hatte ich schon gleich in der ersten Woche, nachdem ich Pfingsten 1979 erstmals als Westkorrespondent akkreditiert vom FDJ-Festival in Ost-Berlin berichtet hatte, eine denkwürdige Lektion erhalten. Eine der Jugendlichen, die ich in der Sophienkirche auf einer Alternativveranstaltung der Jungen Gemeinde kennengelernt hatte, zeigte mir heimlich an einem Nachmittag ihre Schule – das Traditionskabinett, die Wandzeitungen, die Klassenräume. Zu Hause zeigte sie mir ihre Schulaufsätze. Conny war eine jener aufmüpfigen Jugendlichen, die weiß Gott nicht staatstreu lebte und redete. Aber ihre Schulaufsätze lasen sich fast genau wie die Artikel im Neuen Deutschland, die jeden Morgen auf meinem Schreibtisch lagen. Da begriff ich erstmals die Schizophrenie des Doppellebens, die von der Mehrheit im Lande praktiziert wurde. Es gab ein Leben hinter und eines vor den Kulissen, eines privater, eines öffentlicher Natur, eines das dem Staat gibt, was er verlangt, damit man von ihm in Ruhe gelassen wird.
Der tschechische Oppositionelle und spätere Staatspräsident Václav Havel hat dies als ein Leben in der Lüge beschrieben. Das Mitspielen ermöglicht den Fortbestand einer Diktatur. Selbst hohe SED-Funktionäre, die ich etwa im Außenministerium oder bei Empfängen in der ständigen Vertretung der Bundesrepublik kennenlernen konnte, hatten zwei Meinungen, eine offizielle und eine private. Es existierte eine Art allgemeines Stillhalteabkommen gegenüber der Staatsführung um Erich Honecker – bis zum Herbst 1989, als immer mehr Menschen endlich diese Mentalität durchbrachen und riefen: Der Kaiser ist nackt! (Wozu Havel in seiner Schrift schon 1978 aufforderte.)

Nicht das vorgespielte, sondern das tatsächliche Leben und Denken der Menschen in der DDR öffentlich zu machen und die Probleme des Landes beim Namen nennen, genau das war die Aufgabe für einen Journalisten. Solange alles weiter so blieb, wie es war, so lange konnte sich auch nichts verändern. Kritik hinter vorgehaltener Hand ist keine Kritik. Das Herstellen von Öffentlichkeit erschien mir die wichtigste Voraussetzung für ein Leben in Wahrheit, für das Ende dieser andauernden Theateraufführung, die nichts mit der Realität der Menschen und des Landes zu tun hatte. Öffentlichkeit, Information, Aufklärung, die zur ganz normalen Arbeit von Journalisten gehören sollte, wäre in der DDR die Voraussetzung für eine Demokratisierung gewesen.
Das war aber nicht so einfach zu machen, denn die Menschen mit den zwei Meinungen erzählten zwar gerne ihre kritischen Ansichten, wollten aber nicht unbedingt mit Namen und Gesicht und schon gar nicht als erste in die Öffentlichkeit. Das ließ sich lösen, indem ihre Ansichten zitiert wurden, ohne sie beim Namen zu nennen und so durch Identifikation zu gefährden. Allerdings wurden sie so auch nicht zu Identifikationsfiguren. Das änderte sich erst nach und nach. Einzelne wagten es, holten sich dabei eine blutige Nase, weil sie vielleicht verhaftet oder angeklagt wurden. Aber im Lauf der Zeit ging das auch ohne derart harte Konsequenzen, wie sie Wolf Biermann, Robert Havemann oder Rudolf Bahro ereilten. Relativ gefahrlos konnten evangelische Pfarrer sprechen. Das taten dann auch einige, andere Kirchenmänner schwiegen weiter oder rügten sogar das mutige Verhalten ihrer Amtsbrüder. Aber das Unbehagen an den Zuständen in der Republik verschaffte sich zunehmend Gehör.
Ich nutzte Kirchentage und Synoden zu Interviews, um nicht nur mit kritisch eingestellten Pfarrern, sondern auch mit Jugendlichen, Punks, politisch Oppositionellen, Umwelt- und Friedensgruppen zu sprechen. Es war mir wichtig, davon zu berichten, um das staatlich verordnete Schweigen zu durchbrechen und jenen eine Stimme zu geben, die in den Zeitungen auf meinem Schreibtisch nicht vorkamen. Ich nahm die Bluesmessen von Rainer Eppelmann auf Tonband auf, interviewte Rockgruppen wie Pankow oder Keks, fotografierte Friedenswerkstätten, besorgte Untergrundzeitschriften, begleitete Baumpflanzaktionen, sprach mit einer Landkommune in Sachsen.

Punks

Merkwürdigerweise war im Westen nicht jeder an den Informationen aus dem Ostteil Deutschlands interessiert. Die Opposition in der DDR hatte eigene Ideen und die bedeuteten selten eine Glorifizierung des Westens. Die Stationierung amerikanischer Atomraketen in der Bundesrepublik führte 1983 zur bis dahin größten Demonstration in Bonn. Auch in der DDR kritisierte die unabhängige Friedensbewegung "Schwerter zu Pflugscharen" diese Raketenaufstellung durch die SPD-Regierung. Diese Kritik bewirkte jedoch eine auffällige Distanz der bundesdeutschen Regierungsparteien zu den kritischen Geistern jenseits der Mauer.
Ich hatte Anfang der 1980er-Jahre erhebliche Schwierigkeiten, einen Buchverlag zu finden, der meine Bücher über die DDR-Friedens- und Umweltgruppen herausbringen wollte. Absagen von Rowohlt und anderen kamen mit Begründungen, die DDR interessiere kaum jemanden und die kritischen Stimmen seien doch nur marginal und ohne wirkliche Bedeutung.
Das Buch „VEB Nachwuchs – Jugend in der DDR“ wurde von den Herren im „Gesamtdeutschen Ministerium“ als für die politische Bildungsarbeit unbrauchbar eingestuft. Begründung: Der Ausgangspunkt, der rebellische Stadtteil Prenzlauer Berg dürfe nicht zum Ausgangspunkt einer Darstellung der DDR gemacht werden, denn die bestehe aus der SED und ihren Massenorganisationen, der Alternativbezirk sei nur eine Randerscheinung.
Die meisten Politiker in Bonn waren fixiert auf Kontakte mit der Staats- und Parteiebene in der DDR, gelegentlich auch mit der Spitze der evangelischen Kirche, nur in wenigen Ausnahmefällen kam es zu Treffen mit DDR-Oppositionellen. Die aufkommende Bürgerbewegung spielte im Denken der Parteien des Westens keine Rolle – bis auf seltene Ausnahmen. Zu den wenigen, die an eine grenzübergreifende Oppositionsbewegung dachten, gehörten Anfang der 1980er-Jahre die Grünen-Gründer Petra Kelly, Wilhelm Knabe und Lukas Beckmann. Sie ließen sich Kontakte zu Oppositionellen in der DDR vermitteln, besuchten und unterstützten sie.
Auch in Ost-Berlin hatte nicht jeder in der evangelischen Kirche ein Interesse an einer offenen Berichterstattung. Wenn ich etwa über Rainer Eppelmanns Bluesmessen, die Konflikte in der offenen Jugendarbeit oder ein kritisches Papier kirchlicher Umweltgruppen geschrieben hatte, dann empfing mich der Pressesprecher des DDR-Kirchenbundes (der später als inoffizieller Stasimitarbeiter enttarnt wurde) oft mit vorwurfsvollen Worten. „Musste das wieder sein, was Sie da geschrieben haben? Dieser Ärger, den Sie uns damit wieder eingebrockt haben! Unser Bischof wurde sogar zum Staatssekretär für Kirchenfragen einbestellt.“
Mein zentrales Thema der Berichterstattung wurde immer mehr die Entstehung des latent protestierenden Jugendmilieus und die Ausbreitung staatsunabhängiger Gruppen zu Friedens-, Öko- und anderen Themen im ganzen Land. Veröffentlichen konnte ich meine Reportagen, Interviews und Berichte zwischen 1979 und 1989 in den unterschiedlichsten Medien: in Fachzeitschriften wie „Kirche im Sozialismus“ oder „Deutschland Archiv“, in Zeitungen wie SPIEGEL und ZEIT bis hin zu den „Nürnberger Nachrichten“. Dazu kommentierte ich die Entwicklung regelmäßig in Radiosendern wie dem Deutschlandfunk, der Deutschen Welle, Sender Freies Berlin oder dem RIAS. Hinzu kamen einzelne Dokumentarfilme, etwa über die Umweltprobleme in der DDR im ZDF oder Filme, für die ich im Sommer 1983 mit Erlaubnis des DDR-Außenministeriums unkontrolliert kreuz und quer in der DDR vor Ort drehen konnte. (So entstand „Schwerter zu Pflugscharen“ mit den „Schmiede“-Szenen in Wittenberg.)

Peter Wensierski mit Karo

Natürlich waren die Menschen im Westen der hauptsächliche Adressat meiner Arbeit. Doch über den Umweg über die Westmedien wirkten die Berichte auch in die DDR hinein. Dort stellten sie von unten die Öffentlichkeit her, die es von oben nicht geben sollte. Vor allem gelang dies zum einen über die elektronischen Medien und zum anderen über die an der Grenze einfach mit hineingenommenen Bücher und Artikel. Nach sechs Jahren erteilte mir die DDR ein Einreise- und damit Arbeitsverbot. Später erfuhr ich, dass mich ein evangelischer Pfarrer bei seinem Führungsoffizier angeschwärzt hatte, weil ich eine neue Studie über die Umweltprobleme der DDR begonnen hatte. Für die Stasi war ich „Inspirator und Organisator des DDR-Untergrundes“. Sie fertigte Gutachten über meine Bücher und Artikel an und fragte sich, wie ich an die vielen Informationen gelangen konnte, die sie doch geheim halten wollten. Das war einfach und die Antwort gaben sie sich eigentlich selbst in ihrer Akte über mich. Sie schrieben: „Wensierski ist ein guter Zuhörer“ und „Wensierski“ sei überall zur Stelle, „wo er vermeintliche Widersprüche aufdecken kann“.
1986 fing ich beim ARD-Fernsehen an und setzte meine Berichterstattung über die DDR dort fort. In vielen Sendungen des Magazins „Kontraste“ gab es zwei Beiträge von mir. Einen, der ein Thema in der Bundesrepublik aufgriff und ein anderer Filmbeitrag zur DDR. Ich fand es selbstverständlich, kritisch über beide Hälften Deutschlands zu berichten. Es war verlogen, mit dem Finger nur auf ein Land zu zeigen. So machte es die DDR mit dem bösen Westen, in dem man die Arbeitslosigkeit, die Drogenproblemen und die Waffengeschäften überbetonten. So machten es umgekehrt alle Konservativen im Westen, die mit dem Finger gen Osten zeigten und zu Kapitalismuskritikern sagten: „Geht doch rüber!“
Als ich 1986 an einem Beitrag über die Ausweisung von Wolf Biermann zehn Jahre zuvor erinnerte und die Frage stellte: wer sind seine Erben, wer setzt die Opposition im Osten fort? – lernte ich Roland Jahn, den ausgewiesene Jenaer Demonstranten der Friedensbewegung persönlich kennen und holte ihn in die Redaktion. Damit begann eine neue, intensive journalistische Zusammenarbeit mit Informanten aus der Opposition. Seine und meine Kontakte in die DDR und der Wille, über dieses Land weiterhin kritisch zu berichten, schmiedete ein besonderes Ost-West-Team zusammen.
Dabei hatte ich schon 1982 unwissentlich mit ihm zusammengearbeitet. Damals gehörte in Ost-Berlin der Schriftsteller Lutz Rathenow und in West-Berlin der Jenaer Jürgen Fuchs zu jenen, mit denen ich und andere Journalisten Informationen austauschten. Ich erhielt damals heimlich Fotos aus Jena zugesteckt, die etwas ziemlich Peinliches für die Stasi zeigten. Bei einem Verhör war Matthias Domaschk, einer aus der Jenaer Jugendszene, zu Tode gekommen. Seine Freunde hatten auf dem Grab einen Gedenkstein gesetzt. Ein leiser Protest, der die Staatsorgane immens störte. Die Stasi fuhr deshalb mit einem Lada und Anhänger auf den Friedhof und klaute die Plastik vom Bildhauer Michael Blumhagen vom Grab. Aber Roland Jahn konnte davon Fotos machen. So wurden die Bilder am 28. Juni 1982 von mir im SPIEGEL veröffentlicht und ich konnte berichten.
Auf jeder Veranstaltung, auf der ich Anfang der 1980er-Jahren (meist in Räumen der Kirche) war, vernahm ich die Forderung nach Mündigkeit: „Wir wollen mündige Bürger sein!“ Zur Unmündigkeit der DDR-Bürger gehörten die Medien der DDR, zur Mündigkeit konnten Informationen, notfalls auch von außen, aus den Westmedien beitragen. Der freie Zugang zu Informationen gehört zu den grundlegenden Menschenrechten, die nicht länger verwehrt werden konnten.

Buchcover: VEB Nachwuchs
Buchcover: VEB Nachwuchs

Doch der Aufbruch, der sich im Osten Deutschlands anbahnte, wurde im Westen kaum wahrgenommen. Bestimmte Informationen aus der DDR verstießen gegen gängige und beliebte Klischeevorstellungen von CSU/CDU und waren gleichzeitig konträr zur Entspannungspolitik der SPD. Ich erlebte dies bei einer Diskussionsveranstaltung mit dem SPD-Politiker Günter Gaus. Er hatte gerade das Buch „Wo Deutschland liegt“ geschrieben, das den Osten liebevoll als „Land der kleinen Leute“ darstellte – aus seiner Sicht ein entspanntes Idyll mit funktionierenden Nischen für angepasste Bürger, problemlos eingerichtet für die Ewigkeit. Wer klug sei, sagte Gaus, müsse die Realität zweier deutscher Staaten endlich akzeptieren. Der Sozialdemokrat Gaus war einflussreich und prägend, für seine Haltung hat der Historiker Stefan Wolle die treffenden spöttischen Worte von der „heilen Welt der Diktatur“ gefunden.
Ich hatte ganz andere Bücher veröffentlicht. Sie trugen Titel wie „Null Bock auf DDR – Aussteigerjugend in der DDR“ oder „VEB-Nachwuchs“ und „Umweltprobleme in der DDR – Von oben nach unten wächst gar nichts“. Dazu erschienen mehrteilige Spiegel-Serien über die rebellierende Jugend und die massive Umweltverschmutzung im Osten Deutschlands. Gaus interessierte die Opposition in der DDR kaum. Sein Credo lautete: „Am Status quo in Mitteleuropa darf nicht gerüttelt werden. Sonst gibt es Krieg!“ Alle Versuche, ihn zu überzeugen, dass sich seit Anfang der 1980er-Jahre im Osten längst eine andere Realität munter fortentwickelt hatte, halfen nicht. Er und seine ganze Partei (vor allem um Egon Bahr herum) sah in Erich Honecker den idealen Gesprächspartner, den pragmatischen Politiker. Singende, betende, Kerzen haltende Grüppchen waren für Gaus und viele andere seiner Generation nur unwichtiger Kinderkram, politisch schlicht irrelevant. „Wer die Opposition fördert, spielt mit dem Feuer!“, gab er mir noch mit auf den Weg. In sein fest gefügtes Weltbild passten meine Botschaften nicht hinein.

Ähnliches erlebte ich 1983 allerdings auch bei einem Vortrag vor der Bundestagsfraktion der Grünen in Bonn. Anders als Kelly, Knabe oder Beckmann lehnte die Mehrheit eine aktive Unterstützung der Gruppen im Osten Deutschlands ab. Es gab auch so etwas wie eine linke Tabuisierung der DDR. Man wollte auf keinen Fall antikommunistisch sein. Denn antikommunistisch war ja die Generation der Väter, die sich vor der Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit scheuten. So wie ihre Väter, wollten viele westdeutsche Linke nicht sein – auch nicht so wie Franz-Josef Strauß oder Gerhard Löwenthal und all die in ihren Augen „rechten Revanchisten“, die an jedem 17. Juni Kränze niederlegten und formelhafte Reden hielten. Da kritisierte man den SED-Staat lieber nicht. Selbst wenn vor der eigenen Haustür immer wieder auf junge Leute geschossen wurde. Menschenrechtsverletzungen wurden lieber in weit entfernten Ländern kritisiert.
Die politische Lage war damals kompliziert und ist heute sicher nicht mehr für jedermann sofort verständlich. Die Zeit hat das strikte Lagerdenken inzwischen aufgelöst. Aber es war für viele links denkende Menschen in Westdeutschland ungeheuer schwer, ein kritisches Verhältnis zur DDR zu entwickeln, selbst wenn sie die Politik der SED nicht mochten. Lieber verteidigte man sogar die DDR gegenüber den rechten Kritikern. Denn man glaubte, sonst damit sofort „im falschen Boot“ zu sitzen. Für viele war es geradezu unangenehm, sich überhaupt mit der DDR zu befassen. Und als die Mauer fiel, stand der Grüne Otto Schily mit einer Banane in der Hand vor den Fernsehkameras, um die friedliche Revolution klein zu machen. Irgendwie galt vielen die DDR aber auch als der bessere deutsche Staat.
Wolf Biermann übte dazu in einem Interview, das er Kontraste 1986 gab, entschiedene Selbstkritik. Er habe das auch lange Zeit geglaubt, sagte er, „doch ich habe mich in manchen Punkten korrigieren müssen“. Durch Hoffnung auf langsame Reformen sei in der „elenden zurückgebliebenen DDR“ nichts zu machen.
Spätestens seit dem Überfall des Staates auf die Ost-Berliner Umweltbibliothek 1987 entwickelte sich durch Öffentlichkeit eine landesweite Protestkultur, die an Lautstärke zunahm und bis zum Herbst 1989 nicht mehr abriss.
Von entscheidender Bedeutung war die immer frechere Zusammenarbeit mit Informanten und Interviewpartnern der Opposition in der DDR. Was sind ihre politischen Ziele? Was kritisieren sie an den Verhältnissen im Land? Über die Grenze mitgenommene Videokameras spielten zwischen 1987 und 1989 dabei die wichtigste Rolle. Mehrere mutige Bürgerrechtler nutzten sie, um Öffentlichkeit herzustellen. Anfangs filmten sie vorsichtig aus der Ferne rauchende Schlote in Cottbus, Leipzig oder Dresden, um die Umweltverschmutzung sinnlich erfahrbar zu machen. Ein hohes Risiko ging man damals ein, als man die ersten Aufnahmen aus den Uranbergbaugebieten der DDR machte. Die Aufnahmekassetten gingen heimlich über die Grenze zurück in meine Redaktion, als Ausgangsmaterial für Filme, die ein Millionenpublikum erreichten.
Dann trauten sich evangelische Pfarrer wie der Wittenberger Friedrich Schorlemmer oder der Ost-Berliner Stephan Bickhardt als erste vor diesen Untergrundkameras zu sprechen. Schließlich bekamen Vertreter der Opposition wie Freya Klier, Bärbel Bohley, Werner Fischer oder Ulrike Poppe ein Gesicht. Selbst DDR-Neonazis ließen sich 1988 anonym filmen und äußerten sich vor der Kamera über ihre Motive. Im September 1989 wurden die verfallenden Wohnhäuser Leipzig fast offen in den Straßen gefilmt und ein Dutzend „normaler“ Leipziger zeigten ihr Gesicht und äußerten sich kritisch über den Zustand ihrer Stadt und des Landes. Darunter waren junge Leute aus den ersten Reihen der beginnenden Demonstrationen wie Uwe Schwabe und Katrin Hattenhauer. Dieser Film wurde am 12. September ausgestrahlt und hatte, so erzählen die Beteiligten, eine hohe emotionale Wirkung. Es heißt, er habe nicht unwesentlich dazu beigetragen, dass die Menschen auf die Straße gingen. Erst die Wiederspiegelung der den Leipzigern vertrauten Verhältnisse über den Umweg Westfernsehen, das Leben in einer Stadt voller Ruinen, die politische Starre und Aussichtslosigkeit habe aus Scham Zorn gemacht.

Verfallenes Leipzig

Die rund 50 Filme stellten Öffentlichkeit her und sensibilisierten für die Defizite in Staat und Gesellschaft, für Misswirtschaft und Rechtsunsicherheit, für Willkür, Verlogenheit, hysterische Überwachung der Bürger und politische Borniertheit. Wer von der friedlichen Revolution und dem Mauerfall 1989 überrascht wurde, der hatte die Realität, zu der die Bürgerbewegungen und Oppositionsgruppen gehörten, unterschätzt oder einfach nicht wahrgenommen.